- am 29.08.2023
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Turmstraße: Kommt der Tram was in die Quere?

In weniger als zwei Wochen soll das Berliner Straßenbahnnetz endlich wieder wachsen. Es dürfte bei der Tram für die nächsten Jahre vorerst die einzige Streckenneueröffnung sein. Sieht man einmal von Schöneweide ab, wo Umsteigeknoten und Gleisschleife mitsamt einer Eisenbahnunterführung neu entstehen, damit die Bahnen voraussichtlich ab dem nächsten Jahr von der Brückenstraße kommend geradeaus fahren können und nicht mehr den Schlenker über den Vorplatz nehmen müssen.
Von daher sind die 2,2 Kilometer Neubaustrecke, die jetzt vom Hauptbahnhof zur Turmstraße in Betrieb gehen sollen, etwas Besonderes in der Hauptstadt. Wenn nichts dazwischenkommt, weil nichts dazwischenkommt. Denn der Strecke fehlt ein entscheidendes Detail. Anders als im Planfeststellungsbeschluss vereinbart, wird der Straßenzug Thusnelda-Allee/Jonasstraße nun von der Tram auf der Turmstraße unüberwindbar durchtrennt. Wegen Sicherheitsbedenken, wie es aus internen Planerkreisen heißt. Weil sich neben dem Überweg Weichen befinden, über welche die Züge rangieren würden, was den Passantinnen und Passanten wiederum nicht ausreichend signalisiert werden könne.
Auf den ersten Blick eine Kulisse, die an Bundeskanzler Olaf Scholz und seine legendären Ressintiments der Straßenbahn gegenüber erinnert: „Die Stadtbahn ist nicht die Straßenbahn aus seligen Zeiten, sondern eine oberirdisch verlaufende Schneise, die den Stadtraum zerschneidet und die man nicht überwinden kann.“
Das hatte Scholz vor zehn Jahren als Erster Bürgermeister Hamburgs in einem Interview der Hamburger Morgenpost gesagt, womit er wohl auch bei einigen Menschen rund um die Turmstraße den Nerv trifft und so zum - wenn auch ungewollten - geistigen Verbündeten werden könnte.
Längst auf den Plan gerufen hat die Causa Turmstraße Umweltverbände und Interessenvertretungen. Roland Stimpel vom FUSS e. V. ist empört: „Die Sicherheitsbedenken wirken auf uns überzogen. Der Übergang ist am Ende der Strecke, wo die Bahnen nur noch wenden. Sie fahren in beiden Richtungen sehr langsam. Das Risiko ist weit geringer als beim alltäglichen Überqueren von Fahrbahnen mit und ohne Tramgleise. Wir fordern den Senat auf, zum korrekt festgestellten Plan zurückzukehren und die Gitter zu entfernen. Die Tram soll schließlich die Verkehrsbedingungen in Moabit verbessern und nicht die Menschen dort unnötig mit Gittern und Umwegen schikanieren.“
Ganz ähnlich sieht das Tilo Schütz vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, kurz BUND Berlin. Sein Urteil ist drastisch: „So darf eine zeitgemäße Straßenbahn nicht gestaltet sein!“ Der durchgehend eingezäunte Trassenabschnitt in der Turmstraße bilde eine 150 Meter lange Barriere zwischen Westfälischem Kiez an der Krefelder Straße und dem Ortsteilzentrum rund um Rathaus und Markthalle. Der Verzicht auf die Fußgängerquerung stehe dabei im Widerspruch zum gültigen Planfeststellungsbeschluss. „Wir fordern die Realisierung der im Planfeststellungsbeschluss enthaltenen Fuß- und Radquerung der Turmstraße im Zuge von Thusnelda-Allee und Jonasstraße.“
Forderungen, denen sich ebenso der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) anschließt. Deren Berliner Landesvorsitzender Eberhard Brodhage betont, dass man rasch eine Lösung finden müsse, zumal für alle Radfahrenden die Situation noch viel schwieriger sei, weil sie die Stelle lediglich weiträumig über die Bremer Straße oder die Stromstraße umfahren könnten.
Und das, obwohl der Straßenverlauf Krefelder Straße - Thunsnelda-Allee - Jonasstraße sogar zum Ergänzungsnetz des Radverkehrsnetzes gemäß Berliner Mobilitätsgesetz gehört. Henning Voget, Mitglied im ADFC-Landesvorstand, bezeichnet es als Faustrecht, was auf Berlins Straßen herrsche. „Alle nehmen sich einfach, was sie angeblich unbedingt brauchen: beim Falschparken, bei der Vorfahrt, bei den Amtsgeschäften. Diese Kultur, der Allgemeinheit klammheimlich etwas wegzunehmen, zieht sich bis in die Behörden und Institutionen.“
In seinem Hauptberuf ist Voget Architekt für Personenverkehrsanlagen und damit vom Fach. Für ihn ist klar, dass man noch vor der Eröffnung am 9. September aktiv werden müsse, ehe ein nicht akzeptabler Status quo zementiert werde.
Ein nicht gerade unwahrscheinliches Szenario, sollten sich jene aus Planerkreisen hinter vorgehaltener Hand geäußerten Sicherheitsbedenken bestätigen, die zum eigenmächtigen Verzicht auf die Querung geführt haben. Dann könnte es tatsächlich so kommen, dass erst im Zuge des beabsichtigten Weiterbaus der Straßenbahn zur Jungfernheide der Makel beseitigt werden kann. Inwiefern all das Einfluss auf den Betrieb und die bevorstehende Eröffnung haben könnte, ist juristisch delikat.
Roland Stimpel sagt BahnInfo gegenüber: „Im amtlichen Planfeststellungsbeschluss für die Strecke ist hier noch ein Übergang vorgesehen, keine Sperren. Die Zentrale Straßenverkehrsbehörde des Senats hatte im Verfahren zweimal Gelegenheit zur Stellungnahme und äußerte dabei keine Bedenken gegen den Übergang. Mit ihm wurde der Plan verbindlich festgestellt. Erst später kamen der Verkehrsbehörde Bedenken und sie setzte durch, dass anders gebaut wird als beschlossen. Das ist möglicherweise illegal und vor Gericht anfechtbar. Eigentlich hätte der Senat dafür den Planfeststellungsbeschluss ändern müssen, wenn er anders bauen wollte.“
Auf den buchstäblich letzten Metern dieser seit Jahrzehnten geplanten Straßenbahnstrecke könnte es also noch einmal hoch hergehen und spannend werden. Die BVG ist bereits an der Sache dran und wird in Kürze ausführlich antworten.

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