- am 28.06.2018
- auf der Aktuellseite Berlin-Brandenburg
- in der Kategorie S-Bahn
Neuer Berliner S-Bahnzug (Baureihe 484) fertiggestellt
Knapp eine Dekade ist es her, als im Mai 2009 der Betrieb der Berliner S-Bahn kollabierte und die S-Bahn-Krise ihren Lauf nahm. Bis heute hat sich das Unternehmen davon nicht vollständig erholen können, was auch daran liegt, dass der S-Bahn zu wenig Fahrzeuge zur Verfügung stehen, um Wünsche nach längeren Zügen und dichteren Takten zu erfüllen.
Auf dem Weg aus dem Fahrzeugengpass ist mit der Präsentation des ersten Halbzuges nun ein wichtiger Meilenstein erreicht. Kein Wunder also, dass dieser Wohlfühl-Termin wahrgenommen wurde. Neben dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller und dem Verkehrsstaatssekretär Jens-Holger Kirchner, ließen sich auch VBB-Chefin Susanne Henkel und der DB-Konzernbevollmächtigte für Berlin, Alexander Kaczmarek von S-Bahnchef Peter Buchner, Stadler-Pankow-Geschäftsführer Ulf Braker und dem Siemens-Leiter für S- und R-Bahnen Müslüm Yakisan um und durch den neuen Zug führen.
Nach der Anlieferung des ersten Rohnau-Wagenkastens im Oktober 2017 konnte jetzt die wagenbauliche Fertigstellung des ersten Halbzuges der künftigen Baureihe 484 gefeiert werden. Der Zug 484 001 (A-D) hat die Montagehalle von Stadler Pankow verlassen und wird demnächst zur Inbetriebsetzung nach Velten überführt. Über 50 Computersysteme müssen in Betrieb genommen und aufeinander abgestimmt werden, bevor der Zug Fahrt aufnehmen kann. Doch auch dann wird der Zug noch nicht ins Berliner S-Bahnnetz kommen, weiter ins Siemens-Prüfcenter nach Wildenrath überführt, wo zahlreiche Test- und Belastungsfahrten auf dem Programm stehen.
Das Ziel liegt klar vor Augen: In ziemlich genau 2,5 Jahren, am 01.01.2021 Betriebsbeginn, soll der Planeinsatz auf der Linie S47 starten. Ein Termin, zu dem S-Bahnchef Peter Buchner schon heute gerne einlädt. Bleibt zu hoffen, dass das Ziel gehalten wird, denn auf die Nachfrage, ob die neuen Züge nicht schon früher in Betrieb gehen könnten, antworteten die Vertreter des Hersteller-Konsortiums Stadler-Siemens, dass der aktuelle Zeitplan schon sehr ambitioniert wäre. Zunächst werden die 10 Prototypen (je 5 durchgehende Halb- und Viertelzüge) fertiggestellt und absolvieren ein umfangreiches Testprogramm. In etwa einem Jahr sollen dann auch die Tests auf dem Berliner S-Bahn-Netz beginnen. Zuvor dürften die Züge auch schon mal auf der Teststrecke zwischen Hennigsdorf und Velten anzutreffen sein. Die Serienauslieferung der insgesamt 382 Wagen (85 Halb- und 21 Viertelzüge) soll bis 2023 abgeschlossen sein.
Damit die zahlreichen Probleme der heutigen Baureihen der Vergangenheit angehören, sind viele Systeme redundant ausgelegt, so dass die Fahrzeuge idealerweise noch den Betriebstag beenden können - mindestens aber sollen sie problemlos bis zum Endbahnhof kommen. Auch die Winterfestigkeit ist ein wichtiges Thema. So wurden zum Beispiel die Drehgestelle und Antriebssysteme von Osloer Zügen weiterentwickelt. Für eine ausreichende Bremswirkung verfügen die neuen Züge pro Viertelzug über eine Magnetschienenbremse - ein Novum bei der Berliner S-Bahn.
Der Fahrgastraum wird künftig klimatisiert. Aufgrund des eingeschränkten Lichtraumprofils der S-Bahn ging Stadler hier neue Wege, denn die üblichen Dachcontainer sind nicht möglich. Die Klimageräte befinden sich künftig sowohl unterflurig, als auch direkt über den Köpfen der Fahrgäste in den Deckenvouten. Neu ist auch die Möglichkeit Teile des Zuges zu verschließen - eine Forderung, die der Besteller vom Fahrgastverband IGEB aufgetragen bekam. Zwei Schiebetüren befinden sich je links und rechts vom mittleren Mehrzweckabteil, so dass bei Bedarf knapp 2 Wagen mit 5 von 12 Türen eines Halbzuges abgetrennt werden können und das Mehrzweckabteil mit Zugang von beiden Seiten zur Verfügung steht. Alternativ ließe sich so auch das Mehrzweckabteil mit seinen zwei Türräumen absperren, wobei der Zug dann in zwei Hälften getrennt wäre.
Gegenüber dem Mockup gab es die angekündigten kleineren Veränderungen. So wurde im vorderen Mehrzweckbereich die Rufsäule für Rollstullfahrer versetzt und ist damit besser erreichbar. An den Übergängen zwischen den Wagen wurden zusätzliche Sitzplätze ergänzt. Ebenfalls am Übergang befindet sich ein Einzelsitz für kleinwüchsige Menschen, der etwa 10 Zentimeter tiefer angebracht wurde und eine verkürzte Sitzfläche hat. Über allen Viererabteilen wurden Haltestangen installiert, wie sie überwiegend nach der Besichtigung des Mockups gefordert wurden. Bei einer Höhe von 1,90 Metern dürfte das künftig für die eine oder andere Beule bei größer gewachsenen Menschen sorgen. Andererseits haben bei dieser Kompromisshöhe auch kleiner gewachsene Menschen eine Chance sich im Gang stehend festzuhalten.
Strittig ist natürlich auch das Design, denn Geschmäcker sind bekanntlich sehr verschieden. Für die Front haben sich bereits verschiedene Spitznamen gefunden, wie "Lichtschalter", "Bernd das Brot" oder "Schrankwand". Kritik hat auch die Farbwahl hervorgerufen. Traditionsfarben wurden bei der Ausschreibung gefordert, doch die S-Bahn entschied sich bewusst von den alten Farbtönen abzuweichen und sie aufzuhellen. So erinnert sie ein wenig an die "Senftopf" genannte erste Lackierungsvariante der Baureihe 481 mit einer großen gelben Fläche. Der rote Streifen über den Fenstern ist komplett entfallen. Das untere rote Band wurde verkleinert und gibt dem Gelb so auch unter den Fenstern einen Spielraum. Die Farbe Schwarz wird nun wie in der "Kriegslackierung" nicht mehr für abgrenzende Zierstreifen verwendet, sondern dient dem geforderten Kontrast zum Hervorheben der nun schwarzen Türen. Ob sich diese Lackierungsvariante letztendlich durchsetzt, oder wie bei den Vorgängern "Coladose" und "Senftopf" doch wieder zur traditionellen Form zurückwandelt, wird sich mit der Zeit zeigen.
Alles in allem macht das Fahrzeug trotz der vielen Punkte zu Geschmacksfragen einen runden Eindruck. Es wird also spannend, ob es ab Neujahr 2021 die gesetzten Erwartungen erfüllen kann. Es bleibt zu hoffen, dass nach erfolgreichen Tests weitere Fahrzeuge aus dem umfangreichen Rahmenvertrag der S-Bahn abgerufen werden und die Chance zur weitgehenden Vereinheitlichung des Fahrzeugparks genutzt wird.
(Foto: Präsentation des "Lichtschalters" 484 001, v.l.n.r. Kaczmarek, Braker, Kirchner, Müller, Henkel, Yakisan, Buchner - ©Tom Gerlich)
Vier weitere Bilder sind im Berliner BahnInfo-Forum zu sehen.
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